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Wäller interviewt Kinder in Kenia: Das Leben auf der Straße ist schlichtweg hart

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Nairobi - Wie geht es Menschen in anderen Teilen der Welt im Advent? Der Westerwälder Tobias Schminke (20) sprach während seiner zehnmonatigen Sozialarbeit in einem Waisenhaus in Kenia mit ehemaligen Straßenkindern.

Bitte stellt euch kurz vor. Wie heißt ihr? Woher kommt ihr?

Viktor: Mein Name ist Viktor Muriuki. Ich komme aus Nyeri. Das liegt im Zentrum Kenias. Im Jahr 2009 habe ich mit damals 12 Jahren das Leben als Straßenkind begonnen. 2010 kam ich dann nach einem Jahr auf der Straße ins Waisenhaus Children's Hope Home Gathiga. Heute bin ich 16.

Peter: Mein Name ist Peter Mbucha. Ich komme aus Embakassi und lebte ab 2006 auf der Straße, bis ich dann 2007 in das Waisenhaus in Gathiga ging. Heute bin ich 15 Jahre alt. Auf die Straße kam ich im Alter von acht Jahren.

Rose: Mein Name ist Rose, ich bin 18 Jahre alt und habe fünf Geschwister. Die wohnen aber in anderen Waisenhäusern.

David: Ich heiße David. Ursprünglich komme ich aus einem Dorf im Nationalpark Maasai Mara. Ich bin heute 18 Jahre alt und war von 2005 bis 2006 auf der Straße. Dann kam ich hierher.

Welchen Auslöser gab es, dass ihr ein Leben auf der Straße beginnen musstet?

Viktor: Mein Vater und meine Mutter haben sich sehr gestritten. Ich entschied mich, sie zu verlassen.

Peter: Meine Mutter war nicht mehr in der Lage, meine Schulgebühren zu bezahlen, als es galt, mich in die dritte Klasse zu schicken. Also verließ ich sie und begann mein Leben auf der Straße. Meine Mutter suchte nach mir und fand mich. Sie nahm mich daraufhin mit in dieses Waisenhaus.

Rose: Oh, ich war so klein. Ich kann mich nicht mal mehr erinnern. Meine Mutter nahm mich einfach mit. Wir mussten gehen, weil mein Vater verrückt geworden war, weil er so viele Drogen nahm. Er schlug meine Mutter und warf mich buchstäblich vor die Tür. Etwas zu essen hatten wir auch nicht. Wir mussten gehen.

David: Mein Vater starb. Meine Mutter hatte nicht ausreichend Geld für mich und meinen kleinen Bruder, also ging ich.

Rose, deine Mutter wohnte also auf der Straße. Ist das immer noch so?

Nein, sie versucht sich selbst zu versorgen und wohnt in einem Hüttchen im Slum.

Rose, für dich war das Straßenleben als Kind normal. Was dachtest du, als du die reichen Leute in Anzügen in Nairobi hast herumlaufen sehen?

Ich fühlte mich schlecht. Wenn ich einmal reich bin, will ich den Bettlern auf der Straße helfen.

Warum geht man auf die Straße?

Peter: Das sind ganz unterschiedliche Gründe. Einige denken, dass es spaßig ist, das freie Leben auf der Straße zu genießen. Meist fehlt aber das Geld für Bildung, die einfachste Nahrung, Unterkunft oder Klamotten. Da bleibt vielen keine Wahl.

Wie ist das Leben auf der Straße allgemein?

Viktor: Schlichtweg hart, weil man es ohne das Schnüffeln des Klebers und die Drogen nicht aushält. Wir haben das genommen, weil es Kälte und Hunger betäubt.

David: Ja, es ist schwierig. Man schläft auf dem blanken Beton von Vorhöfen. Und man wird ständig von der Polizei misshandelt. Sie schlagen die Kinder! Mitten in der Nacht.

Peter: Und der Zwang der Gang! Das ist eine Gruppe, in die man eintritt. Es ist wie ein Klub von Gangstern. Ältere Obdachlose zwingen die Kinder, auch uns damals, Passanten zu beklauen. Man muss für sie stehlen, damit sie einen in Frieden lassen. Andernfalls schlagen sie dich.

Viktor: Und auch außerhalb der Gang muss man abgeben. Man hat ja keine Rechte, niemanden der einen beschützt. Die älteren Obdachlosen zwingen die Straßenkids einfach, ihr Hab und Gut an sie abzugeben.

Wie seid ihr an Geld gekommen?

Viktor: Wir haben Geld durch Diebstahl, durch das Sortieren und Sammeln von Schrott, durch das Tragen von Koffern und anderer schwerer Lasten für andere Leute und durch Betteln bekommen. Als Kind bekommt man schon 600 Schilling (5,20 Euro) am Tag. Frauen erhalten so 200 Schilling (1,70 Euro) und Männer ab 20 Jahren fast nichts mehr, deshalb gibt es kaum alte Bettler. Sie verhungern einfach. Dazu gibt es noch die Gangs, die dir Geld abnehmen, je nachdem, wie viel du hast.

Angenommen ihr hattet am Tagesende 400 Schilling (3,40 Euro). Was habt ihr euch gekauft?

Viktor: Zuerst Drogen. Drogen haben wir noch vor dem Essen gekauft. Das kostete so 70 Schilling (60 Cent). Ich habe Kleber geschnüffelt, Zigaretten geraucht, Mir'ra konsumiert und Marihuana.

Peter: Kleber zum Schnüffeln. Klar, ich auch. Danach Essen und Trinken und, wenn dann noch etwas übrig blieb, kaufte ich Kleidung. Mehr war aber nie drin.

David: Ich habe neben Kleber auch Kerosin und Benzin geschnüffelt.

Rose: Ohne Drogen hatten wir ständig Hunger! Aber wir konnten uns an den Müllhalden der Fabriken bedienen.

Wie seid ihr von diesem Drogen-Mix losgekommen? Wie lange hat das gedauert - ein halbes Jahr?

Viktor: Kein halbes Jahr. Bei mir war das nicht so einfach. Als ich hier ins Waisenhaus kam, da blieb ich hier für zwei Tage. Dann floh ich auf die Straße, um wieder die Drogen zu nehmen. Dann kam Tantchen (Heimleiterin Lucy Ndegwa) wieder auf die Straße, hat nach uns gesucht, uns gefunden und uns zurückgebracht. Das lief einen Monat lang so. Dann war ich von den Drogen los.

Was war jeweils euer verrücktestes Erlebnis auf der Straße?

Viktor: Unfälle. Ist man ein Trinker, so kann man sich nicht konzentrieren. Zum Beispiel wenn ein Fahrzeug an einem vorbeifährt. Also fahren sie einen an. So etwas habe ich so oft gesehen. Manchmal gab es gebrochene Beine, manchmal sind die Leute an den Verletzungen gestorben. Es kümmert sich ja keiner. Und klaust du Metall beim Mechaniker, dann verprügeln sie dich schlimm, dabei waren wir doch Kinder. Einige Leute begehen Selbstmord.

David: Ab einem gewissen Alter bekommt man beim Betteln nicht mehr genug zum Leben. Also stiehlt man. Ich habe flüchtende Diebe gesehen, die von der Polizei auf der Flucht erschossen wurden oder in Autos gerannt sind.

Peter: Ältere Obdachlose zwangen Straßenkindern Geld ab. Wenn die sich weigerten, dann warfen sie sie von der Brücke in den Fluss Nairobi-River. Einige konnten nicht schwimmen und ertranken. Diejenigen, die überlebten, wurden krank durch das dreckige Wasser.

Rose: Das Schlimmste für mich war, als ich acht Jahre alt war und die Polizei mich und meine Mutter aufgegriffen hatte. Sie steckten mich in ein Gefängnis für Kinder und meine Mutter woanders hin. Ich hatte so eine Angst. Im Gefängnis waren nur Kinder. Der Älteste war 16 Jahre alt. Wir haben einen Monat unfassbar gehungert.

Manche Jungs der Straße laufen aus Waisenhäusern weg, weil sie die absolute Freiheit vermissen. Vermisst auch ihr etwas?

Rose: Nein, nichts.

Überhaupt nichts?

Rose: Überhaupt nichts. Für Frauen ist es noch gefährlicher auf der Straße. Die Männer stehen unter Drogen und vergewaltigen Frauen. Eine Frau ist nicht viel wert auf der Straße. Eine Prostituierte kostet 20 Schilling (17 Euro-Cent). Ich bin jetzt 18. Mit 18 ist man auf der Straße verheiratet, hat Kinder. Und es wird erwartet, dass man einen Straßenjungen „Fellow" heiratet.

Kommen wir nun zur glücklichen Wendung. Wie kamt ihr in unser Kinderheim Gathiga Hope Home?

Viktor: Lucy kam regelmäßig auf die Straße und brachte uns warmen Tee und wollte uns überreden zur Schule zu gehen. Mich fragte sie direkt, ob ich gehen will, aber ich war mir nicht so sicher, ob ich wollte. Also kam ich her ins Waisenhaus, um zu sehen, wie es hier so ist. Das war mein Plan. Nachdem ich zwischen Straße und Waisenhaus hin- und hergewechselt bin, bin ich dann ab 2011 zur Schule gegangen. Davor bin ich immer wieder auf die Straße, weil ich ja drogenabhängig war und im Heim keine Drogen bekam.

David: Das war bei mir auch so. Nur kam bei mir Duncan, Lucys Ehemann, kümmerte sich um mich und holte mich jedes Mal zurück.

Peter: Ich wurde von meiner Mama hergebracht, die immer noch lebt.

Eine wichtige Veränderung seitdem ihr hier seid ist...

David: Dass ich lesen und schreiben kann. Heute kann ich Englisch sprechen, vorher sprach ich nur Suaheli und meine Stammessprache Kikuyu.

Ihr habt hier schon einige Freiwillige gesehen. Nerven die nicht manchmal? Oder was gefällt euch an denen?

Viktor: Wenn sie sich für uns interessieren mögen wir das oder wenn sie mit uns sprechen. Toll finden wir auch, wenn sie uns einen Spendenkreis aufbauen können für unser Essen, Schulgebühren und Kleidung; so können wir uns auf die Schule konzentrieren. Partys im Heim mit Keksen und Saft sowie Ausflüge find ich spitze. Oder wenn sie uns ermutigen. Was ich nicht so mag ist, wenn sie ihr Ugali zur Kuh werfen, weil sie so empfindlich beim Essen sind.

David: Freiwillige sind nett und sie haben ein großes Herz. Sie helfen gern. Es gibt nichts, was ich nicht mag.

Glaub ich nicht. Also, sag schon!

David: (lacht) Ok, sagen wir so: Wenn man einmal einen Tag die Schule verpasst hat, dann gehen sie einem direkt auf die Nerven. „Warum bist du Zuhause und nicht in der Schule?" fragen sie dann. Einer nach dem Anderen. Und sie werden nie müde diese Frage zu stellen.

Wird es einmal einen Tag geben, an dem es keine Straßenkinder mehr gibt?

Viktor: Ja, das glaube ich schon. Dazu brauchen wir zunächst mal eine andere Regierung, wir brauchen Gerechtigkeit und Leute, die nicht selbstsüchtig sind. Außerdem: gute Bildung für Eltern.

Wie sieht eure Zukunft aus?

David: Ich will Lehrer werden. Physik und Mathematik! Ich will eine Familie, zwei Kinder. Zuerst einen Jungen und dann ein Mädchen.

Peter: Ich möchte Anwalt werden und natürlich eine Familie. Drei Kinder!

Viktor: Ich will gern zur Luftwaffe gehen. Aber drei Kinder? Familie will ich natürlich auch, aber zwei Kinder sind genug.

Rose: Ich möchte etwas im Bereich Medizin arbeiten. Und meiner Mutter will ich ein großes Haus bauen, ah, ein großes, schönes Haus! Dann muss sie nie wieder auf der Straße oder im Slum leben.

Das Gespräch führte Tobias Schminke


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